Viele Klient*innen kontaktieren mich rund um eine Trennung in Sorge um das Wohl ihrer Kinder: diese haben ein narzisstisches Elternteil – sehr oft den narzisstischen Vater – und sie befürchten Spätfolgen für ihre Kinder. Oft ist Auslöser die konkrete Trennungssituation, in der sie spüren, wie auf dem Rücken ihrer Kinder Macht und Manipulation ausgeübt werden. Damit wachsen die Ängste, dass ein narzisstischer Elternteil auch schon vorher die Kinder unbewusst so beeinflusst haben könnte, dass sich irgendwann Spätfolgen zeigen könnten.
Geht es dir auch so? Dann bist du nicht allein! Und ja: das Aufwachsen mit einem narzisstischen Elternteil kann weitreichende Spätfolgen für Kinder haben und sie bis weit ins Erwachsenenalter begleiten. Welche Folgen und in welcher Ausprägung, das hängt stark von der Individualität des Kindes ab und vor allem seiner Resilienz. Sei wachsam, wenn du ein auffälliges Verhalten bei deinem Kind beobachtest und biete ihm die Hilfe und Unterstützung an, die es je nach Alter benötigt.
In diesem Artikel stelle ich dir die wesentlichen möglichen Spätfolgen eines narzisstischen Elternteils für Kinder zusammen und auch erste Hinweise, wie du als betroffene/r Mutter oder Vater früh entgegenwirken kannst. Aber auch empathische und fürsorgliche Omas, Opas, Tanten, Onkel, gute Freunde oder Paten können helfen, diese Spätfolgen abzumildern.
1. Spätfolge: Schwierigkeiten, eine stabile eigene Identität zu entwickeln
Kinder eines narzisstischen Elternteils haben wegen dessen Verhaltens häufig nur eine sehr eingeschränkte Möglichkeit, eine eigene, stabile Identität zu entwickeln.
Der narzisstische Elternteil hat ein sehr schwaches Selbstwertgefühl, auch wenn er das selbst nicht weiß. Er oder sie braucht daher um sich herum „Gefolgsleute“, die so funktionieren, wie er/sie das für sich braucht. Eine eigenständige Identität der Kinder ist dabei gar nicht „erwünscht“; solche Ansätze werden oft im Keim erstickt durch dauernde Kritik, Liebesentzug, Meckern oder Beschimpfungen.
So lernen Kinder narzisstischer Elternteile früh zu gehorchen, sich anzupassen, nicht aufzufallen, unterzutauchen, in Deckung zu gehen – also alles Verhaltensweisen, die die Entwicklung einer eigenständigen Ich-Identität nicht fördern, sondern unterdrücken. Das kann sogar das Gefühl auslösen, gar nicht selbst zu zählen, sondern wie ein „verlängerter Arm“ des narzisstischen Elternteils zu sein.
Was kannst du tun?
Fördere bewusst die eigenständige Entwicklung deines Kindes, lasse es sich erforschen und ausprobieren, sich selbst entdecken. Akzeptiere es so, wie es ist und vermittle ihm genau dieses Gefühl: in seiner Identität wirklich angenommen zu werden, unabhängig davon, welche Facetten sich zeigen und ob sie dir persönlich gefallen oder nicht.
2. Spätfolge: „Ich bin nicht gut genug.“
Ein wichtiges „Erziehungsprinzip“ des narzisstischen Elternteils ist es, Liebe – oder besser: Anerkennung – vor allem gegen Leistung zu gewähren. Das bedeutet Leistung in Schule, Sport oder anderen Hobbies. Aber oft sind die Erwartungen und Ansprüche so maßlos übersteigert, dass ein Kind diesen gar nicht gerecht werden kann.
Dadurch verfestigt sich bei vielen Kindern narzisstischer Elternteile die innere Prägung: „Ich muss leisten, um geliebt zu werden“ verbunden mit dem Gefühl, nie gut genug zu sein. Dieses „Werde ich jemals gut genug sein?“ ist eine ganz klassische Spätfolge, die oft zu einer großen Sehnsucht nach Anerkennung von Außen führt.
Je nach Individualität des Kindes kann es hierauf im weiteren Verlauf seines Lebens unterschiedlich reagieren: entweder resultiert dieses Gefühl in einem erhöhten Leistungsbewusstsein, auch verbunden mit dem Risiko der Selbstausbeutung und damit einhergehend der Gefahr des Burn-outs, oder dieses Gefühl führt zum genauen Gegenteil, nämlich zu innerer Resignation, die jeden Wunsch nach Weiterentwicklung oder Leistung erstickt.
Was kannst du tun?
Vermittle deinem Kind immer wieder, dass es wertvoll ist als Mensch, ohne etwas dafür zu tun. Dass es einfach nur sein darf. Du könntest zum Beispiel Unternehmungen mit deinem Kind machen, bei denen es nur um Freude und Genießen geht, nicht alles muss immer „sinnvoll“ sein. Absichtslos miteinander verbrachte Zeit ist besonders wohltuend.
3. Spätfolge: Selbstschädigender Perfektionismus
Die innere Prägung „Ich bin nicht gut genug.“ kann zu einer weiteren Spätfolge eines narzisstischen Elternteils führen: selbstschädigendem Perfektionismus.
Mache dir einmal klar: Perfektionismus ist die Angst vor Fehlern, und die Angst vor Fehlern ist die Angst vor Ablehnung – also „mit Fehlern“ nicht gemocht zu werden. Bei der unbedingten Leistungserwartung des narzisstischen Elternteils schwingt das oft mit: das Kind darf keine Fehler machen, sonst riskiert es Ablehnung. Elterliche Ablehnung kann kein Kind ertragen, also erlernt es schon früh, perfektionistische Tendenzen zu entwickeln, um die Ablehnung zu vermeiden. Selbstschädigender Perfektionismus als Spätfolge entsteht dann, wenn das Streben nach Perfektion irgendwann nur noch den einzigen Zweck hat, den eigenen Selbstwert zu begründen und zu erhalten.
Leider überträgt sich ein so erlernter Perfektionismus oft auf viele oder gar alle Lebensbereiche: das eigene Aussehen, die Performance im Job, das Mutter- oder Vatersein, das eigene Heim, Liebesbeziehungen, Beziehungen zu Freunden und Bekannten, Verhalten in Gemeinschaft. Dieser Perfektionismus mündet oft in große Erschöpfung.
Was kannst du tun?
Versuche, deinem Kind früh das Gefühl zu vermitteln, dass Fehlermachen zum Leben dazugehört und nichts mit seinem Wert als Mensch zu tun hat. Niemand ist perfekt, und Fehler eigenen sich gut dazu, daraus zu lernen. Liebe es bedingungslos und unerschütterlich aus ganzem Herzen, gerade wenn es „Fehler“ macht, und zeige ihm das auch.
4. Spätfolge: Erdrückendes Verantwortungsgefühl
Kinder narzisstischer Elternteile entwickeln oft sehr früh ein starkes Verantwortungsgefühl für andere Menschen.
Das kommt daher, dass der narzisstische Elternteil das Kind so sehr für seine Zwecke und zur Stabilisierung des eigenen schwachen Selbstwertgefühls vereinnahmt. Heranwachsende Kinder können dadurch sogar das Gefühl entwickeln, sie müssten sich um den narzisstischen Elternteil wie um ein Kind kümmern.
Später überträgt sich das so erlernte Verantwortungsgefühl leicht auf andere Menschen: den/die Partner*in, Freunde oder Bekannte, Arbeitskolleg*innen. Menschen mit einem starken Verantwortungsgefühl können schlecht „Nein“ sagen, wenn sie um etwas gebeten werden und bald haben sie mehr Aufgaben, als je zu bewältigen sind. Und dann wird das Verantwortungsgefühl erdrückend.
Was kannst du tun?
Dein Kind ist Kind und darf Kind sein. Übertrage ihm altersgerechte Verantwortung, in den Angelegenheiten, die es selbst betrifft: zum Beispiel die Verantwortung für seine Hausaufgaben oder kleinere Aufgaben im Haushalt, aber nicht mehr. Dein Kind ist weder Seelentröster noch Blitzableiter, sondern: Kind.
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5. Spätfolge: Übersteigerte Schuldgefühle
Mit dem erdrückenden Verantwortungsgefühl gehen oft übersteigerte Schuldgefühle als Spätfolge einher. Das Kind eines narzisstischen Elternteils ist es gewöhnt, mit zahlreichen Erwartungen, Forderungen und Ansprüchen konfrontiert zu werden. Genauso hat es gelernt, diese Forderungen möglichst perfekt zu erfüllen, um keine Ablehnung zu riskieren. Erfüllt es nicht, entstehen Schuldgefühle. Zunächst gegenüber dem narzisstischen Elternteil, aber später möglicherweise auch gegenüber anderen Menschen, die Forderungen stellen und unausgesprochene Erwartungen haben, sei es im Privatleben oder im Job. Übersteigerte Schuldgefühle können zu tiefer innerer Erschöpfung und Ängsten führen.
Was kannst du tun?
Eltern können sehr leicht Schuldgefühle bei ihren Kindern hervorrufen – durch das, was sie sagen, wie sie es sagen oder was sie tun. Achte darauf, wie du mit deinem Kind sprichst. Nimm es ernst, gerade wenn es um schwierige Themen geht wie schulische Leistungen, Zeit mit Freunden, Übernahme häuslicher Pflichten. Nimm bewusst Vorwürfe aus den Gesprächen mit deinem Kind heraus und versuche stattdessen konstruktiv, ruhig und wertschätzend zu kommunizieren.
6. Spätfolge: Probleme, selbst Grenzen zu ziehen
Eine weitere Spätfolge eines narzisstischen Elternteils ist es, dass dein Kind wahrscheinlich Probleme hat, für sich selbst wohltuende Grenzen zu setzen.
Ein narzisstischer Elternteil ist in der Regel übergriffig und respektiert die Grenzen anderer Menschen nicht. Er oder sie grätscht in die Privat- und Intimsphäre der umgebenden Menschen ein, wenn es ihm oder ihr wichtig erscheint. Kinder gewöhnen sich schnell an derartige elterliche Übergriffe und entwickeln kein Gefühl für die eigenen Grenzen, die eigene Privat- und Intimsphäre. Weil sie dieses Gefühl für sich selbst nicht entwickeln, sind sie – paradoxerweise – oft auch unbewusst übergriffig gegenüber anderen Menschen.
Was kannst du tun?
Im familiären Miteinander und dem, was wir als Erziehung verstehen, verwischen häufig die Grenzen aller Beteiligter. Versuche selbst, angemessene Grenzen zu ziehen: du bist Vorbild deines Kindes. Versuche auch, die Ansätze zur Grenzziehung deines Kindes von Anfang an zu beachten. Das sind teilweise ganz simple kleine Gewohnheiten wie zum Beispiel, dass du anklopfst, bevor du sein Zimmer betrittst oder es ausreden lässt. Allgemein kann gelten: Wenn dein Kind etwas nicht möchte, muss es nicht. So lernt es Selbstwirksamkeit und dass seine Grenzen respektiert werden: Sein „Nein“ zählt. Ich weiß, dass das manchmal mit erzieherischen Vorstellungen kollidieren kann, wenn dein Kind zum Beispiel eine Sportart oder ein Hobby lernen soll und „nicht dranbleiben will“. Hier gilt: biete deinem Kind alles an, versuche auch, dass es drei- oder viermal mitmacht. Wenn es dann aber etwas partout nicht will, solltest du das ernst nehmen. Und Schule ist natürlich ein ganz eigenes Thema, das im Rahmen dieses Blogartikels leider zu weit führen würde…
7. Spätfolge: Gestörtes Bindungsverhalten
Das Kind eines narzisstischen Elternteils kann sich nicht auf dessen bedingungslose Liebe verlassen. Liebe und Anerkennung erhält es für Leistung, aber selten um seiner selbst willen.
Das kann bei der eigenen Partnersuche und Beziehungen zu Verlustängsten führen, auch zum Beispiel zu vorgreifendem Verlassen, bevor er oder sie selbst verlassen wird. Im Extremfall kann eine Spätfolge eines narzisstischen Elternteils auch Selbstisolation sein, um keinesfalls enttäuscht zu werden.
Was kannst du tun?
Wenn sich gestörtes Bindungsverhalten zeigt, ist dein Kind oft schon aus dem Haus. Du kannst auch hier wieder vorbeugen mit deinem empathischen zugeneigten Verhalten. Du kannst ihr oder ihm zeigen, dass auf deine Liebe Verlass ist, auch wenn mal etwas schiefläuft. Dass du dein Kind nimmst, wie es ist und vorbehaltlos unterstützt, wenn das nötig ist.
8. Spätfolge: Erhöhtes Risiko, selbst in eine toxische Beziehung zu geraten
Mit einem narzisstischen Elternteil steigt für Kinder das Risiko, selbst in eine toxische Beziehung zu geraten. Dein Kind ist die Atmosphäre der Abwertung, der Demütigungen und Übergriffe gewöhnt. Dieses „vertraute Toxische“ übt eine unerklärliche, unbewusste Anziehungskraft aus.
Hinzu kommt, dass alle geschilderten Spätfolgen und das verursachende Verhalten des narzisstischen Elternteils insgesamt dazu führen können, dass Selbstwertgefühl, Selbstachtung, Selbstvertrauen und Selbstliebe bei Kindern narzisstischer Elternteile oft nur schwach oder gar nicht entwickelt sind. Gerade das macht aber anfällig für das übersteigerte und zur Schau gestellte Größenbewusstsein narzisstischer Menschen.
Was kannst du tun?
Alle vorherigen Tipps tragen schon dazu bei, dein Kind so zu stärken, dass es möglichst immun wird gegenüber toxischen Verhaltensweisen und damit auch toxischen Beziehungen. In der Regel hast du auf die Partnerwahl deines Kindes nur noch wenig oder keinen Einfluss, aber du kannst ihm oder ihr unbedingt zur Seite stehen, wenn es selbst seine Situation verändern möchte.
9. Spätfolgen für Kinder durch ein narzisstisches Elternteil: Die gute Nachricht
Die gute Nachricht, wenn du befürchtest, dass ein narzisstischer Elternteil Spätfolgen für deine Kinder haben könnte: Erkenntnis ist der erste Schritt zur Veränderung. Wenn du die Spätfolgen kennst, bist du jetzt hierfür sensibilisiert und kannst deinen Kindern angemessen helfen. Empathie und bedingungsloses Wohlwollen für deine Kinder sind der Schlüssel hierzu.
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